Linard Bardill – Sei ein Zeuge deiner Zeit. Wie, das musst du selber herausfinden.

Aus der Reihe „Heiniger trifft …“ dürfen wir an dieser Stelle das folgende Interview mit Linard Bardill publizieren. Es trägt den Titel „Sei Zeuge deiner Zeit. Wie, das musst du selber herausfinden“ – und handelt vom kleinen Buddha, vom Streiten und den Pussy Riots. Von Markus Heiniger.

Markus Heiniger und Linard Bardill stehen mitten in der Ruinaulta, einer gigantischen Schlucht im Kanton Graubünden, am jungen Lauf des Rheins. Wer schon einmal hier war, weiss, weshalb man anstatt Ruinaulta gerne auch „Grand Canion der Schweiz“ sagt. Wobei einzuwenden ist, dass andere mit Fug und Recht auch den Creux du Van im Jura so nennen oder das Gasterntal in den Berner Alpen am jungen Lauf der Kander: „Lotrecht steigen die Flühe himmelan“ beschreibt ein altes Kandersteger Wander-Buch die Szenerie. Ja, sie liegen vor der Haustür der Schweizer Liedermacher, die Grand Canyons.

Und Heiniger und Bardill stehen mitten drin, in so einem. Im Hier und Jetzt. Und sie singen: Linard Bardills und Pippo Pollinas „I packa in mina Rucksack…“ (Ich packe in meinen Rucksack…) Und gespenstisch hallt das Echo des Zeilenendes von den Felswänden „wen i go, wen i go, wen i go“ (wenn ich gehe, wenn ich geh, wenn ich geh…). Denn im Lied weht ein Hauch von Abschied und in der Ruinaulta ein Hauch der Ewigkeit. Und die Luftgeister und Wasserfrauen des jungen Rheins stimmen in den Gesang der Liedermacher mit ein und lachen ihr sonniges und herzhaftes Lachen, weil doch schon bald vom kleinen Buddha die Rede sein wird, dessen Lachen Linard Bardill auch in seinen Rucksack mit einpackt, wenn er geht. Und der kleine Buddha gefällt ihnen nun mal, den Luftgeistern und Wasserfrauen.

DER KLEINE BUDDHA? Das ist Linard Bardills bald zehnjähriger Sohn mit „Down Syndrom“. „Trisomie 21“ sagt man auch. „Mongoloid“ sagte man früher. Doch die Mongolen lässt man heute aus dem Spiel. Und Linard Bardill hat für das Wesen seines Sohnes in der vielbeachteten Kolumne in der auflagenstärksten Zeitung der Schweiz, der Coop-Zeitung, ja wie gesagt eh einen ganz anderen Namen gefunden.

MH Wie kam es zum Namen „DER KLEINE BUDDHA“?
LB Er sitzt so da. Er macht Regenbogen am Brunnen. Er lässt den Sand durch die Hand rieseln und betrachtet, wie die Galaxien entstehen. Er schaut mich an und lächelt.
MH Während andere Promis zum Teil richtige Schlachten gegen Journalisten und Paparazzi schlagen, erzählst du in der Presse und neuerdings auch in Buchform munter Privates aus der Welt des kleinen Buddha. Was waren deine wichtigsten Beweggründe, seine Geschichten zu veröffentlichen?
LB Manchmal kommt man an ein geschichtliches Fenster. Da kann man nichts dafür. Menschen mit einer Trisomie soll es bald nicht mehr geben. Die Pränatal-Diagnostik wird in den reichen Ländern diesen Zweig der Menschheit abschneiden. Ich bin ein Betroffener, würden andere sagen, ich bin ein Beglückter, meine ich. Beglückt mit der Verantwortung für einen wunderbaren Menschen. Manchmal steigere ich mich zu dem Gedanken, dass ich ihn und seinesgleichen zu vertreten hätte. Das ist natürlich Übersteigerung. Dennoch will ich meine Stimme erheben. Ich weiss, was dieser „Genozid“ nach sich zieht. Eine grosse Verarmung. Es gibt dann noch weniger Menschen, die ein anderes Tempo haben. Die kein Urteil äussern. Die nicht warum fragen. Die kein Aber kennen. Keine Zahlen, nur Gesten und Worte. Substantive, Küsse. Mein kleiner Buddha ist ein Löwe, der andere zu Löwen macht. Das heisst nicht, dass er nicht auch eine Nervensäge sein kann und ein Sargnagel. Vor allem für mein Weltverbesserungsgehirn.

Er wirft mir mich selbst zu – wie einen Ball. Wir spielen.

MH Als ich neun Jahre alt war, unterhielt ich mich vor dem Garderobengebäude des FC Oberwil einmal etwa eine Viertelstunde lang mit Pauli. Pauli war ein junger mongoloider Mann, wie wir damals sagten. Es war meine erste Begegnung mit einem solchen Menschen. Ich war mir damals trotz seiner unbeholfenen Art zu sprechen nicht sicher, ob sich hinter seinem schelmischen Lächeln nicht vielleicht doch ein überlegener Geist befinde. „Was hast du denn mit dem geredet?“, fragten meine Kollegen, „der ist doch geistig behindert!“ Ich hörte nicht auf sie, denn die Begegnung hatte mich innerlich zu sehr in Anspruch genommen. Inwiefern sind sie uns eben doch überlegen, Menschen wie der kleine Buddha?
LB Für mich gibt es keine überlegenen oder unterlegenen Menschen. Aber es gibt solche, die manipulieren. Gegen die erhebe ich die Stimme. Mein kleiner Buddha manipuliert nicht. Er ist da. Stets. Beim Lachen. Beim Weinen. Beim Essen. Beim Sitzen. Er wirft mir mich selbst zu – wie einen Ball. Wir spielen.
MH Pauli, das muss ich hier einfach rasch erzählen, durfte den Fussballern und dem Schiedsrichter in der Halbzeitpause jeweils den Tee bringen. Dies tat er sehr gewissenhaft. Trotzdem gab es einmal richtig Ärger. Ja, aber so richtig. Denn es hatte in der ersten Halbzeit für einen Spieler des FC Oberwil eine gelbe Karte abgesetzt. Und so beschloss Pauli kurzerhand, dem Schiedsrichter in der Halbzeitpause keinen Tee zu bringen. Da tanzte der Bär! Kommt dir so was vertraut vor? Komm, erzähl uns doch auch eine Geschichte!
LB Geschichten brauchen die Spannung. Spannung entsteht durch das Gefälle von Wissen. Wenn ich sage: „Morgen bringe ich den Seiltänzer um.“ Dann entsteht im ersten Satz eine dichte Erwartung. Wer ist der Seiltänzer? Was wird morgen sein? Wer bringt ihn um? Wer ist ich? Warum bringt dieses Ich den Seiltänzer um? Wird es ihm gelingen? All das bringt das Leben mit dem kleinen Buddha nicht mit sich. Er kennt nur immer den Ort, wo er gerade ist. Natürlich freut er sich, wenn er morgen zu Rommy gehen kann. Es geht dann aber um die Freude, jetzt, nicht um das Morgen. Daher kann ich von ihm keine „übliche“ Geschichte erzählen. Ich kann in meiner Beschreibung nur bei ihm sein. Ich kann von ihm erzählen, wie er ohne Wenn und Aber durchs Leben zieht.
MH In einer deiner Kolumnen steht der kleine Buddha am Fenster und weint. Du fragst ihn nach dem Grund. Doch alles Fragen geht ins Leere. Nichts ist aus ihm rauszukriegen. Später dann umarmt er dich und vergräbt sein Gesicht in deinem Hemdkragen. Sein Schluchzen lässt allmählich nach. Und irgendwann spricht er, so erzählst du es im Buch, die Antwort auf alle Fragen dieser Welt aus: „Lieb, lieb, lieb“. – Weiss eigentlich dein kleiner Buddha, dass er dich zu deinen zurzeit vielleicht stärksten Texten inspiriert?
LB Nein. Er steht nicht für ein Individuum, das sich seiner selbst bewusst ist, indem es sich selber reflektiert. Er ist. Er hat zwar ein Ich. Aber er hat wie fast kein Ego. Er spricht auch höchst selten von sich selbst. Indem er etwa seinen Namen sagt. Wenn man ihn fragt wie er heisst, dann schaut er sehr freundlich. Sagt aber nichts.
MH Welches von deinen Liedern ist ihm das liebste?
LB Er hat Phasen. „I bin ds Füür“, (ich bin das Feuer). Oder „Ds Wasser bin i!“ aus dem sinfonischen Singspiel „Die Rose von Jericho“. Die liebt er sehr. Auch die Lieder aus dem Singspiel „nicht so schnell, Wilhelm Tell!“ Aber es wechselt. Was bleibt, ist, dass er nach der Schule in seine Hängematte sitzt und Musik hört. Manchmal hat er eine Ukulele dabei. Oft geht er im Zimmer auf und ab, singt und spielt mit.
MH Mochten und mögen deine Tochter und deine anderen drei Söhne deine Kindergeschichten „aus dem blauen Wunderland“ vom „Brummbären Beltrametti“ und vom „Doppelhasen“, der näselnd ganze Satzteile immerzu wiederholt, ganze Satzteile immerzu?
LB Sie waren allesamt die Hebammen für die Geschichten. Als Teil einer Patchwork Familie wollten sie immer alles auf einmal haben, ganze Abende lang. Da habe ich heillos erfunden. Am Ende musste ich dann bei ihrer Mutter anrufen, um zu erfragen, wie die Geschichte genau gewesen sei. Sie erinnerten sich nämlich besser daran als ich.
MH Du besuchst mit deinen Liedern regelmässig auch Kinder in Spitälern. Was singst und erzählst du einem jungen Menschen, der weiss, dass er bald sterben wird?
LB Ja, das mit dem Wissen ist so eine Sache. Es kommt sehr darauf an, wie alt ein Kind ist. Es gibt ein Alter, wo der Tod noch nicht gefasst werden kann. Da singe ich Mutterlieder, Erdenlieder, Sonnenlieder, Delphinlieder. Später, wenn das Kind schon etwas ins Bewusstsein gekommen ist, singe ich von Waldemar, dem guten Hirten, der mit den Schafen kommt, mit dem Esel und dem Hund. Oder ich singe vom Schnee, in den wir uns fallen liessen und Engel machten. In dieser Zeit von etwa drei bis acht Jahren sind Kinder ganz offen für magische Bilder, für Märchen und innere Reisen. Grössere Kinder wollen auch übers Bewusstsein angesprochen werden. Wollen wissen, ob es Gott gibt, ob man nach dem Tode weiterlebt. Wenn ein Kind das Glück hat, eine Umgebung zu treffen, in der über den Tod überhaupt gesprochen werden darf, ist das nochmals ganz etwas anderes als wenn das Thema tabu ist. Ich kann singen. Das ist Medizin und oftmals auch das Öffnen einer Tür.

Wer kein Ziel hat, kann auch keine Irrwege gehen.

MH Als junger Mann setztest du dich bei Hanns Dieter Hüschs Freund, dem Basler Grafiker und Radiomacher Jürgen von Tomëi kurzerhand in den Garten und sangst, weil Jürgen gerade weg war, seiner Frau deine ersten Lieder vor. Jürgen von Tomëi war damals die Schweizer Liedermacher-Instanz schlechthin und seine Frau war von deinen Songs hin und weg. So gingst du, dem Titel deiner ersten CD getreu, immer wieder mal ganz schön direkt „Aufs Leben los“. Ich frage bewundernd und fast etwas neidisch: Bringt solche Zielstrebigkeit im Leben eigentlich auch Nachteile?
LB: Heute würde ich sagen: Wer kein Ziel hat, kann auch keine Irrwege gehen. Wobei die Frage, ob der Mensch ohne Sinn überhaupt existieren kann, gleich im Gefolge der Ziellosigkeit einhergeht. Man lebt so lange, als man Projekte hat. Ein Kind gross ziehen, ein Buch schreiben, die Enkel aufwachsen sehen, ein Haus bauen. Was aber wirklich Leben bedeutet, diesem Geheimnis bin ich noch immer auf der Spur. Je länger ich lebe, umso wichtiger erscheint mir die Tatsache, dass zu jeder Biographie auch eine Tanatologie also eine Geschichte des Sterbens und des Todes gehört. Da haben wir noch einiges vor uns…
MH Apropos Hanns Dieter Hüsch und seinem legendären Programm „Frieda auf Erden“. Auf einer deiner ersten Platten-Aufnahmen, dem Album „Lieder verbrannter Dichter“ singst du erschütternde und ergreifende Texte von Walter Mehring, Else Lasker Schüler oder eben auch Kurt Tucholskys „Krieg dem Kriege und Friede auf Erden“. Mir hat diese Scheibe als Teenager Dichter näher gebracht, die ich zuvor allerhöchstens dem Namen nach gekannt hatte. Singst du diese Lieder heute noch?
LB Ja, gerade im November mache ich ein Programm mit dem Titel: die himmelhoch jauchzenden – todtraurigen Lieder der Else L.“ mit einem Kammerensemble in Chur, meiner Heimathauptstadt. Da geht es nicht nur um die wunderbaren Gedichte und Lieder von Else Lasker Schüler, sondern auch um ihr Schicksal als Zeitzeugin des 20. Jahrhunderts. Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg. Flucht in die Schweiz, Verweigerung des Asyls, Emigration nach Israel. Die Frau steht auch für ein jüdisches Jahrhundert mit all seinen Höllen und Himmeln.

Sei ein Zeuge deiner Zeit. Wie, das musst du herausfinden.

MH Was rätst du jungen Liedermachern, die nicht mehr aus einem politischen Engagement heraus schreiben, wie es in Deutschland in den 1970er Jahren üblich war und wie es bei uns in der Schweiz etwa noch ein Aernschd Born tut?
LB Sei ein Zeuge deiner Zeit. Wie, das musst du herausfinden.
MH Eine Detailfrage aus dieser Zeit, die aber vielleicht noch ganz interessant ist: Du schreibst im CD-Begleittext zu „Lieder verbrannter Dichter“, Jakob Haringer, der Gotteslästerer und Maria-Freak sei dir besonders ans Herz gewachsen. Was verbindet dich mit ihm?
LB Das Vagantentum, die Heimatlosigkeit, die Heimat im Wort. Ich bin sesshaft und sehne mich nach den Zigeunern. Ich bin ein ambulanter Weltenherumsinger und sehne mich nach einem Zuhause. Ich denke, dass das alle Künstler betrifft, die oft unterwegs sind. Freilich hatte Jakob Haringer fast kein Zuhause mehr. Hätte er nicht in Köniz eine Bleibe gefunden, er wäre wohl im Zug gestorben. Wo er übrigens geboren ist.
MH Du warst viel unterwegs. Per Autostopp bis nach Indien. Und irgendwann bist du im nahen Zürich einem Sizilianischen Strassenmusiker begegnet. Pippo Pollina, der ja zusammen mit Konstantin Wecker das starke Lied „Questa nuova Realtà“ geschrieben und gesungen und der solo eine ganz schöne Karriere als Cantautore hingelegt hat. Pippo Pollina und du, ihr seid noch heute Freunde und Bühnenpartner. Etwa im gar noch nicht so alten Programm „Caffè Caflisch“. Was macht das Gespann Pollina-Bardill aus?
LB Die Verschiedenheit. Die Magie unserer beiden Stimmen. Die Freundschaft, die nun seit über 25 Jahren „virulent“ ist.
MH Auch die Musiker von „l’art de passage“, die u.a. mit Gerhard Schöne zusammengearbeitet haben, kamen nicht an dir vorbei. Die CD „Nachttiere“ ist musikalisch bis heute etwas vom Feinsten, was dir geglückt ist, finde ich. „I han di gära“ (ich habe dich lieb), ist so ein unglaublich eingängiger Titel daraus. Oder: „Ich weiss, dass die Zeit ein Vogel ist /und unsre Stunden ihrer Flügel Schläge“. Das ist so ein Satz von dir, der sich bei mir tief eingeprägt hat. Zur stehenden Wendung ist bei meiner Frau und mir etwa auch „Mir schmeckt dein Kuss / wie Haselnuss“ geworden. Könntest du einen eigenen Titel nennen, natürlich gerne auch einen jüngeren, der dir selber besonders ans Herz gewachsen ist? Oder entstehen Lieder-Liebesbeziehungen bei dir eher zu Liedern anderer Künstler?
LB Im Herbst 2014 werde ich ein neues Album produzieren. Es heisst „if you make it there“. Das Zitat von Frank Sinatra deutet aber nicht auf New York sondern auf Scharans, das verpennte Nest in dem ich wohne. Im Titelsong Scharans (in Schwitzertütsch natürlich) geht es um eine Liebesbeziehung. Es geht um Heimat, um Weggehen und Zurückkommen. Ich habe das Lied gemeinsam mit meinen Nachbarn, den Mitgliedern der Band 77 Bombay Street gemacht. Die Jungs sind im Moment ganz gross im Geschäft und wir haben Scharans zusammen geschrieben und mit dem Männerchor, dem Kinderchor und der Ländler Kapelle aufgenommen, das halbe Dorf war in der Turnhalle und sang der anderen Hälfte das Lied vor. Das habe ich vom Kleinen Buddha gelernt: Die Globalisierung ist ein kultureller Rohrkrepierer, weil sie den Leuten die Illusion vorspielt, dass die Welt da drüben, oder da hinten, da vorn oder da links ist. Nur nicht hier, da wo ich gerade stehe. Ich habe nichts gegen Weltbürgertum. Ich habe einiges gegen Nationalismus. Aber ich bin ein vehementer Verfechter des Hierseins, hier wo ich jetzt gerade bin. Das Leben findet nicht morgen und es findet nicht wo anders statt. Es ist nur gerade hier und es ist nur gerade im „Nu“. Wie Meister Eckhart sagt. In diesem Nu wird das Wort geboren. Und das Lied. Beides Dinge, die uns in der Welt verorten.
MH Mit deiner Mutter sprachst du als Kind Rhätoromanisch, mit deinem Vater Bündner-Dialekt, also eine schöne, weiche Form des Walserischen. Zudem hattest du im Gegensatz zu vielen Schweizer Liedermachern auf der Bühne nie Berührungsängste zum Hochdeutschen, das du mit einer feinen Bündner Einfärbung ebenso gepflegt und leidenschaftlich singst, wie alles andere auch. Wie entscheidet es sich eigentlich, in welcher der drei genannten Sprachen ein Lied in deinem Hirn und Herzen zu werden beginnt?
LB Das entscheidet das Herz. Vielleicht auch das Thema, das Publikum.
MH Hast du ein abendfüllendes Rhätoromanisches Bühnenprogramm?
LB Ja, drei. Eines hiess „i nu passaran!“ (sie werden nicht durchkommen). Das andere „Tamangur“. Tamangur ist ein Arven- (Zirben) Wald im hintersten Engadin. Dieser Urwald wurde vor Zeiten zum Symbol des Rätoromanischen. Das dritte heisst „Mia flotta Lisalotta“. Es sind Lieder für Kinder. Von allen drei Programmen gibt es auch eine CD.
MH Auf der Begleit-CD zum Buch „DER KLEINE BUDDHA“ spielst du Gitarre solo. Man hat beim Hören das Gefühl, du sitzest mit deinem Instrument unter der alten Linde in Scharans und alle hören dir zu: Die Lausbuben, die Geschäftsfrauen, die Grossväter, die Schulmädchen, die Buddhas, die Katzen, die Vögel und die Wolken. Fantasiere ich mir da beim Hören etwas zusammen? Oder gibt es in Scharans solche romantische Liederabende unter der alten Linde tatsächlich? Ja, wie geht es ihr überhaupt, der alten Linde? Sie ist ja wohl der älteste Baum weit und breit! Hat sie das letzte Gewitter heil überstanden?
LB Ja, die Bäume … Sie sind meine Lieblinge. Gestern war ich mit zwei Kindern (fremde, wenn es fremde Kinder überhaupt gibt) unter einem Bergahorn. Wir haben zusammen gesungen, das Lied vom Zilip (dem Heuschreckenmann) und der furmia (Ameise). Ein sehr trauriges Liebeslied, das über 400 Jahre alt ist. (Es überleben wohl nur die Liebesgeschichten, wo die Liebe traurig endet, Romeo und Julia, Abälard und Eloise, Adam und Eva…) Unter einem Ahorn wird man wie geduscht, ganz fein, ein Mikrotröpfchenregen von süssen und hellen Teilchen, die schwer zu beschreiben sind. Dann haben wir Ahornpropeller aufgeschlitzt und sie auf die Nase gesteckt. Als „Ahörner“ tanzten wir dann um den Baum.
Ich halte Walter Lietha für den vermutlich poetischsten und ekstatischsten Liedersänger der Schweiz.
Der Linde geht es ihrem Alter entsprechend gut. Sie ist eine alte Dame und der kleine Buddha umarmt sie jedes Mal, wenn wir daran vorbei gehen. Konzerte mache ich in meinem Atelier. Im Mai mit meinem langjährigen Freund, dem Liedermacher und Zeitzeugen Walter Lietha. „Das Leben ist eine Reise durch die eigene Seele“. Da waren viele aus dem Dorf und auch von weither gekommen, da Walti schon lange nicht mehr öffentlich aufgetreten ist. Seine Werksammlung ist dieses Jahr mit der fünften CD beendet. Und ich finde, er müsste bei euch einen ganz guten und prominenten Platz bekommen. Ich halte ihn für den vermutlich poetischsten und ekstatischsten Liedersänger der Schweiz. Und um Ekstase, Herausstehen, um Hypostase, über die Illusion der Realität in die Wirklichkeit hinausgehen, darum geht es in der Kunst, oder?
MH Es gibt so Künstler-Typen, ich nenne sie „Da Vinci-Typen“, die einfach alles anpacken und zu Kunst machen. Du gehörst ein bisschen zu dieser Spezies, oder nicht? Jedenfalls hast du dir dein eigenes Atelier unlängst selber entworfen und gebaut. Ein künstlerischer Akt? Und was kommt noch? Linard Bardill, der Maler? Linard Bardill, der Politiker? Oder gibt es das alles schon?
LB Meine Person ist nicht wichtig. Ich würde mich auch nicht vergleichen wollen. Never compare! Da ist man immer am Ort des Urteils. Darum geht es aber nicht. Einer macht nur Gedichte und wird berühmt. Einer macht alles und bleibt unerkannt. Es geht darum zu sein. Alles andere ist „Vanagloria“, Eitelkeiten, Kinkerlitzchen.
MH Zurück zum kleinen Buddha. Über seinem Bett hängt ein Schriftzug, der einen ermahnt, seine Kinder öfter mal zu knuddeln. Knuddeln wir uns ganz allgemein zu wenig?
LB Wir müssen uns knuddeln und „am Grind neh“. Was heisst, auseinandersetzen: lieben und streiten, Dinge beim Namen nennen. Wir brauchen ein Liebesleben und wir brauchen Streitkultur, Femen und Aktionen im Stile der Pussy Riots. Ganz unspirituell und ohne Seidensocken. Wir sind auf unsere Emotionen angewiesen. Emotionen suchen Ausdruck. Wie Ideen übrigens auch. Seit dem globalen Sieg des Kapitalismus gibt es kaum noch ideologische Kämpfe. Ist es besser geworden? Haben wir weniger Kriege? Sind die Armen weniger arm, die Reichen weniger reich? Ich bin kein Kommunist, war es nie und ich verabscheue die Gräuel der Kommunisten wie die der Nazis. Aber der globale Kapitalismus ist die gegenwärtige Geissel der Menschheit. Er verhindert, dass es menschlicher wird auf dieser Erde. Er versklavt die ganze Menschheit in der globalisierten Wordplayer Fabrik. Er hält uns im Würgegriff der Finanzmärkte und verschleudert die Rohstoffe. Der Rätoromane Pasolini sagte: Wie soll ein Leben, das umgeben von sinnlosem Zeug ist, sinnvoll sein? Ich hoffe auf den Zusammenbruch des verbrecherischen Finanzsystems. Ich freue mich bis das Handwerk wieder goldenen Boden hat, bis das Essen nicht zwanzig mal mehr Energie frisst um transportiert zu werden, als es dem Esser abgibt. Ich glaube an einen dritten Weg. Ein Geld ohne Zins und Inflation. Ein Zusammenleben, das wieder aus der totalen Vereinzelung hinausführt. Die Freude an der Beschränkung auf das Gute, Wahre und Schöne. Jedoch: Ein grosses Ja, Engagement, Klarheit des Denkens, Freiheit des Handelns ist nicht ohne ein grosses Nein zu haben.
MH Linard, danke für dieses Gespräch!
LB Gerne!

Linard Bardill ist am 16. Oktober im Jahre des Affen 1956 in Chur geboren. Mit der Empfindsamkeit der rätoromanischen Mutter, ihrer Sprache, und der Zähigkeit des Walser Vaters, seiner Liebe zu den Bergen, ausgerüstet, wächst er in der Alp- und Traumlandschaft Graubündens auf. Als junger Schweizer Liedermacher erhält er 1989 den Deutschen Kleinkunstpreis und 1990 den Salzburger Stier. Bis heute hat er 13 Alben mit Liedern herausgegeben und über 20 CDs mit verschiedensten Produktionen für Kinder, wie „Geschichten aus dem blauen Wunderland“ u.v.a.

Link: www.bardill.ch

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