Tinu Heiniger oder: Von Karrieren, Prügeln und Liedern (eine Familiensaga)
Aus der Reihe “Heiniger trifft …” von Markus Heiniger. Diesmal: Heiniger (Markus) trifft Heiniger (Tinu). Mit einer ausführlichen Einleitung zur Familiensaga.
Die beiden Liedermacher Tinu Heiniger (1946) und Markus Heiniger (1968) sind miteinander verwandt. Um drei Ecken. Zuweilen treffen sie sich an einer Beerdigung eines gemeinsam betrauerten Familienmitglieds oder, vor geraumer Zeit schon, zum 100. Geburtstag von „Schwester Martha Heiniger“ mit ihrer bemerkenswerten Lebensgeschichte rund um ihre „Flucht“ nach Peru. Höchste Zeit also, sich auch einmal auf „Ein-achtel-Lorbeerblatt“ zu treffen und ganz einfach über Kleinkunst zu reden. Wobei, halt! Gerade die Familie ist bei den beiden Lied-Poeten ja immer wieder Inhalt ihrer Songs und Texte:
Markus Heinigers Urgrossvater, der Prediger Gottfried Heiniger, ist Tinu Heinigers Grossvater. Gottfried hat mit Rosette eine Partnerin, die eine packende Geschichtenerzählerin ist und mit ihren „Hauskreisen“ schon bald im Dorf zur Institution wird. Die beiden haben zusammen sieben Kinder und Gottfried, ein erfolgreicher Turner, hat ausserdem einen starken Hang zum Jähzorn. Seinen sozialen Aufstieg vom Ledergerber zum Prediger verdankt Gottfried Heiniger u.a. seinem ausgeprägten Sprachgefühl. Seine Turnerdiplome verbrennt der Bekehrte als „irdischen Tand“.
Wie Chaplin und Schumacher
Sein ältester Sohn heisst Ernst. Er durchläuft eine veritable Tellerwäscher-Karriere und arbeitet sich vom Liftmonteur zum Direktionsmitglied der Schindler-Aufzüge in Genf und Lausanne empor. Die Villa mit Blick auf den Genfersee – Charlie Chaplin und Michael Schumacher lassen grüssen – gehört dazu. Einer seiner beiden Brüder heisst Paul. Er ist Möbelschreiner, wird dann aber immer mehr zu einem Erfinder und ist Tinu Heinigers Vater. Seine Schreinerei steht in Langnau im Emmental und seine neuesten Erfindungen präsentiert er jeweils an der Holzmesse in den Gebäuden der Basler Mustermesse. Martin, oder eben Tinu, wie man auf Berndeutsch sagt, wird von seinen Eltern schon als kleiner Bub zum Nachfolger erkoren. Er lernt dann auch, ein wenig widerwillig, in Bern Möbelschreiner. Was er, der Jazz-Klarinettist und „Berg-und-Tal-Sänger“, davon hält, tagein, tagaus in der Bude etwas zu tun, das seinem Talent und seinen Neigungen nicht entspricht, teilt er, der 30-jährige, der inzwischen Primarlehrer ist, aller Welt auf seiner ersten Platte mit: „Es schysst my a“, (jugendliche Umgangssprache). Immer öfter ist er nun mit Gitarre und Mundharmonika unterwegs. Und es ist wohl nur konsequent, dass Tinu Heiniger die Arbeit mit seinen Liedern im Lauf der Jahre zum Beruf macht.
Der älteste Sohn des Schindler-Direktors Ernst Heiniger, Jean-Pierre Heiniger oder Peter, wie man ihn in der Familie nennt, bereist Afrika und die Welt als Industrie-Apotheker und Spezialist für Tropenkrankheiten. „Seht, da kommt der Träumer daher!“, pflegt ihn sein Pfarrer-Grossvater mit dem Bibel-Zitat aus der Josefs-Geschichte zu begrüssen. Aber der Träumer weiss schon, was er will. Und so begegnet er auf seinen Reisen nicht zuletzt diversen Afrikanischen Staatspräsidenten und spricht in Indien, wenige Monate vor ihrer Ermordung, mit Indira Gandhi. Peter ist Markus Heinigers Vater. Doch schon viel früher natürlich ist Peter auch Tinu Heinigers ältester Cousin (Vetter). Und Tinus Vater Paul ist ja nicht nur Peters Onkel sondern gleichzeitig auch sein geliebter und verehrter Götti (Pate). Denn dieser hat grosse Stücke auf den kleinen zweisprachig aufwachsenden Genfer Peter. Und er hat Humor.
Auch der elf Jahre jüngere Tinu kennt natürlich die liebenswürdige und lustige Seite seines Vaters. Aber eben auch eine andere. So schreibt er noch zu dessen Lebzeiten in einem autobiographischen Lied: „Mi Père, dä het mr uf e Ranze ggä“, (Mein Vater hat mich verprügelt), Tinus Bruder Ueli Heiniger ist beim Schweizer Fernsehen ein beliebter Moderator und ist auch der Gründer und Leiter des „Clubs“. Über ihn schreibt er in diesem Lied: „U mi Brüetsch, dä isch no hütt bir Mère dr Märliprinz“, (Mein Bruder, der ist noch heute bei der Mutter der Märchenprinz). „Und wo n ig bi cho, het’s gheisse, lue mau dä, dä isch doch am Tüfu abem Chare gheit, hesch nit ou z Gfüeu, däm Bueb däm spinnts?“ (Und als ich gekommen bin, hiess es, schau mal den an, der ist doch dem Teufel vom Karren gefallen, hast du nicht auch das Gefühl, diesem Jungen spinnt‘s?) Nein, Tinu nimmt in seinen Liedern kein Blatt vor den Mund, auch nicht, als er sich in den Anfängen seiner Karriere in einem Song gegen den weit verbreiteten Unterhaltigsbrunz“ (Unterhaltungs-Pisse) wehrt. Dem damals in den Schweizer Medien omnipräsenten „Trio Eugster“ gelingt es, das Lied per Gerichtsentscheid zu verbieten.
Aus tiefstem Herzen
Doch Tinus Lieder sind auch versöhnlich. „I blybe hie und du chaisch gah“, (Ich bleibe hier und du kannst gehen), singt er zum Abschied seines Vaters, als er ihm die Hand hält und er ihm sein Lieblingslied singt. Und auch Tinus Mutter kommt immer wieder vor in seinen Liedern, allen voran in Tinus Hit „Oberhofe am Thunersee“, in dem er sich auf einem weissen Dampfschiff noch einmal als kleinen Jungen an der Hand seiner Mutter sieht, in deren Tasche es Schokolade hat, ehe klein Tinu in der ersten Klasse oben jenen berühmten Mann entdeckt, der dem Lied die Melodie leiht: Harry Belafonte.
Später taucht auf einer von Tinu Heinigers CDs („Läbe wi ne Chatz“) auf einmal ein ganz besonderer Begleiter auf: Tinus grosses Vorbild, der Jazz-Posaunist Chris Barber. Ihm widmet er zwei Lieder und er spielt auf diesem Album die Posaune. Und Tinu Heiniger selber taucht im Studio jenes Schweizer Musikers auf, der in Frankreich heute ein Star ist, bei Stefan Eicher. Dieser hat sich zuvor bei einem Auftritt Tinus in dessen „Lied vo de Bärge“ (Lied von den Bergen) verliebt, das in der Schweiz heute praktisch zum Volksgut geworden ist: Der kleine Tinu – wiederum das Kind – steht im Lied mit seinem anderen Grossvater, dem Grossvater Schär, auf einem Gipfel vor dem Alpenpanorama, möchte eigentlich endlich nach Hause gehen und kann seinen Grossvater nicht daran hindern, irgendwelchen wildfremden Leuten die Berge zu erklären.
Auch Markus Heiniger singt in seinen Liedern am Piano von Landschaften und Hügeln. „Und dr Mond rollt übere Blaue“, (Und der Mond rollt über den Jura-Blauen). Das Lied spielt nicht im weltberühmten Emmental sondern im Schweizerisch-Elsässischen Leymental bei Basel. Denn Markus Heiniger, seines Zeichens ebenfalls Primarlehrer, packt immer wieder einmal die grenzenlose Grenzland-Melancholie. Und auch er singt von der Familie. In seinem Song „Schorsch“ etwa erzählt er, wie der geistig leicht behinderte Bruder des Schindler Direktors Ernst und des Erfinders und Schreiners Paul seinem Leben mit einem letzten Gang in die Aare ein Ende setzt. Markus singt auf Baseldeutsch, auch darum, weil Tinu ihm, obschon er auch im Berner Dialekt zu Hause ist, in seinen Anfängen als Kleinkünstler dazu geraten hat. Weshalb? Auf Baseldeutsch, so Tinu vor vielen Jahren bei einem der seltenen Treffen der beiden, müsse man das Chanson, trotz Aernschd Born, eben erst noch erfinden.
Einen gemeinsamen Auftritt von Tinu und Markus Heiniger gab es auf Anfrage eines Festival-Veranstalters auch schon. Und als Markus Heiniger im Samstag-Abend-Programm des Schweizer Fernsehens zur besten Sendezeit, als Casting-Sieger des Schweizer Rockstars Polo Hofer, (Platin), mit einem Song auftreten darf – es durften an diesem Abend keine eigenen Lieder gesungen werden – singt er seine Baseldeutsche Bearbeitung von „Jede chunnt und jede geit“ (Jeder kommt und jeder geht), dem Titelsong eines Tinu Heiniger-Albums. „Darf ich?“, fragt Markus den Tinu per E-Mail. „Ja klar, ist doch super!“, antwortet dieser, „aber tu der Familie keine Schande an!“
Von einem Hirnforscher habe ich in einem Interview gelesen, unser Hirn habe bis zum Tod nur ein Ziel: zu lernen. Und gäll, was für ein wunderbarer Beruf, das Leben und Dasein zu erforschen und daraus Lieder zu schreiben und Musik zu machen!
MH Sälü Tinu!
TH Sälü !
MH Was hat er eigentlich erfunden, dein Vater?
TH Er hat z.B. einen kleinen Papierschneider mit einer kreisrunden Rasierklinge und als Drehachse ein kleines Kugellager konstruiert. Oder einen Winkeldübel, oder eine Zeichenmaschine für Architekten und Schreiner, und, und, und. Meine Mutter wollte, dass er das macht, was er sehr gut konnte: Schöne Möbel, auch Stilmöbel. Es gab nur ganz wenige Möbelschreiner, die das noch konnten. Für meine Mutter hat mein Vater viel zu viel Zeit mit seinen Erfindungen verplempert und viel zu viel Geld dafür ausgegeben. All die Patentierungen haben ein Heidengeld gekostet.
MH Und hat eine seiner Erfindungen den Durchbruch geschafft?
TH Das war für ihn nach vielen Jahren, in denen seine Erfindungen nur ein Verlustgeschäft waren, im Alter eine grosse Genugtuung: Eine deutsche Firma hat einen gescheiten Schubladen-Vollauszug von ihm in den Vertrieb genommen. Für die Lizenzen kamen während einer langen Zeit jedes Jahr aus Deutschland ein paar Tausender rein. Damit konnten meine Eltern alle Schulden bezahlen.
MH Stimmt es eigentlich, dass du exakt an jenem Tag gezeugt worden bist, als der zweite Weltkrieg zu Ende war? Ist diese Geschichte ein Mythos, der sich da um deine Person rankt oder gibt es dazu eine plausible Erklärung?
TH Das ist so. Ich habe meine Mutter dazu gefragt und sie hat mir gesagt, dass sie bei mir ganz genau wisse, wann ich gezeugt worden sei. Am Tag des Friedens läuteten auch in Langnau die Kirchenglocken. Alle Leute liefen auf die Strasse und feierten, wie auch immer, diese Erlösung, dass dieser fürchterliche Weltkrieg nun zu Ende war. Dann gingen meine Eltern heim. Meine Mutter sagte mir: „Da dachte ich, das sei der Moment. Und es hat geklappt.“
Einmal, als mein Sohn als kleiner Junge all meine LPs in der Stube verteilt hat und dann über diese heiligen Schallplatten knirschenden Fusses mir entgegenkam…
MH In einer deiner Geschichten im Buch „Mueterland“ erzählst du, wie du als Jugendlicher beim Üben deine Klarinette einmal so wuchtig gegen die Wand geschmissen hast, dass sie in dieser steckenblieb. Hast du auch eine jähzornige Ader?
TH Die schlimmste Beleidigung für mich war, wenn meine Mutter sagte: „Du bisch wie der Poul!“ Paul, so hiess mein Vater. Und der war, wie sein Vater, jähzornig, hat fast jeden Tag, ob in der Bude oder als Lehrer in der Gewerbeschule rumgeschrien. Und er hat mich gelegentlich verprügelt und zwar so brutal, wie man sich das fast nicht vorstellen mag. Und für mich war es ein Gesetz, ja nicht so zu sein, wie mein Vater. Und ich habe meinen Sohn auch nie geschlagen – doch einmal: Wie er als kleiner Junge all meine LPs in der Stube verteilt hat und dann über diese heiligen Schallplatten knirschenden Fusses mir entgegenkam, da habe ich ihm ohne zu überlegen eine geknallt. Aber sonst nie – und natürlich hätte ich das damals gerne ungeschehen gemacht.
MH Kann der Künstler Jähzorn quasi als Motor nutzbar machen?
TH Kann sein. Besser ist wohl, wenn wir diese alte Wut bei uns erkennen und sie möglichst nicht an die nächste Generation weitergeben.
MH Als Kind bist du am Radio vom Jazz infiziert worden. Wie kamst du später von der Klarinette zum Singen?
TH Da waren in Bern in der Rampe die Berner Troubadours mit dem genialen Mani Matter. Die habe ich mit 16, 17 Jahren gehört. Meinen ersten Auftritt hatte ich mit Liedern von Mani Matter bei den Mannen vom SAC-Sektion Emmental im Bärensaal. Engagiert dafür hat mich mein Vater- er war also nicht nur ein jähzorniger Schläger.
MH Singend an der Gitarre, und natürlich auch immer mit Mundharmonika und Klarinette, hast du das Emmental neu entdeckt. Es folgten weitere Landschafs-Songs, nicht zuletzt dein gewaltiges Niesen-Lied. Der Niesen, der Berg, der wie eine riesige Pyramide über dem Thunersee in den Himmel ragt, sieht während den über zwölf Minuten, die der Song dauert, alle Wesen, die in seinem Umkreis und Schatten leben, die ersten Tiere zuerst, dann die Jäger und Sammler, die in die Täler kommen, später die Bauern und schliesslich uns selber, die gehetzten Kommunikationstechniker; bevor es um ihn, den Niesen, wieder still wird, erschreckend still. Wie reagiert dein Publikum auf ein solches Song-Monument?
TH Wie eigentlich bei den anderen Liedern auch: Sie hören zu, sind bei der Geschichte dabei. Und wenn das jeweils so ist, dann ist schon mal ganz gut!
MH Du nennst dich selber „Berg-und-Tal-Sänger“. Wie bist du auf diese Bezeichnung gekommen?
TH Ich komme aus dem Emmental und lebte lange Zeit auch im Berner Oberland, ich komme aus den Bergen und Tälern und ich singe.
MH Ist es für dich eine Genugtuung, dass du der rechtskonservativen Volkspartei, der SVP, mit ihrer weit über die Landesgrenzen (nicht nur positiv) ausstrahlenden Vaterfigur Christoph Blocher, das Thema Landschaft und Heimatliebe doch recht erfolgreich streitig machst?
TH Meine CD von 2002 hat den Titel „Heimatland!“. Ich habe schon immer gesagt und gesungen, dass das auch mein Land ist, bereits 1981 auf der Doppel-LP „Live im Chrämerhuus“ mit der Woody Guthrie Adaption „Das Land isch dis Land“.
MH Nun bist du ja auf der Bühne überhaupt nicht der Typ, der „hurra!“ brüllt und sagt, „und jetzt klatschen auf mein Zeichen alle mit!“ Du leuchtest und strahlst vielmehr mit einer bemerkenswerten Ruhe von innen heraus. Trotzdem hast du in den letzten Jahren damit begonnen, in deinen Konzerten zusammen mit dem Publikum alte Schweizer Volkslieder zu singen. Wie kamst du darauf und wie erlebst du diese Momente?
TH In unserer Familie wurde viel gesungen und die Mutter hat Mundharmonika gespielt. Ich gehöre noch knapp zur Generation, wo man bei den „Pfadis“, an den Dorffesten und im Militär miteinander gesungen hat. Und diese Generation kennt die vielen schönen, alten Lieder und singt gerne mit.
MH Du wurdest, wie mein verstorbener ehemaliger Bühnenpartner Fritz Widmer übrigens auch, für Dialekt-Produktionen als Sprach-Coach angefragt. Gibt es im Dialekt denn richtig und falsch?
TH Ich gehöre auch zur Radio-Generation. Wir haben uns z. B. all die Gotthelf-Hörspiele angehört. Und die waren in einem gepflegten, manchmal auch deftigen Berndeutsch. Auch darum höre ich, wenn etwas „nicht stimmt“.
Wir Europäer haben rhythmisch keine Ahnung. Was z. B. afrikanische Musiker, die mit Trommeln und Rasseln aufgewachsen sind, im Blut haben, das müssen wir üben, üben, üben, bis wir es nicht mehr üben müssen, sondern spüren und spielen können.
MH Trotz deiner hohen Sprachkompetenz lobst oder kritisierst du nach Konzerten von Kollegen in der Regel zuerst den Rhythmus. Weshalb?
TH Ja, das ist ein weites Feld, ich versuche mal etwas dazu zu sagen: Wer nicht weiss, dass der Rhythmus und das Gefühl dafür, der Beat, also das Pulsieren oder der Herzschlag das A und O eines Songs ist, der wird nie wirklich grooven. Ich bin mit dem Swing-Jazz gross geworden und habe Jahrzehnte dafür gebraucht, dass es bei mir wirklich swingt, dass man den Up-Beat spürt, was das Stück leicht macht, es Richtung Himmel bewegt. Wir Europäer haben rhythmisch keine Ahnung. Was z. B. afrikanische Musiker, die mit Trommeln und Rasseln aufgewachsen sind, im Blut haben, das müssen wir üben, üben, üben, bis wir es nicht mehr üben müssen, sondern spüren und spielen können.
MH Auf der Bühne sind es heute deine erzählten Geschichten, die du als deine persönlichen „Free-Jazz“-Elemente bezeichnest. Wie bist du zum Spoken-Word-Künstler geworden, zum Free-Jazz-Erzähler?
TH Da übertreibst du. Ich will bloss vor dem Konzert nicht planen und wissen, was ich zwischen den Liedern sage. Ich will jeweils im Moment reagieren können, dem sage ich etwas hoch gegriffen Free-Jazz.
MH Unlängst hast du Geschichten, auf Hochdeutsch übrigens, als Buch herausgegeben. „Mueterland“, (Mutterland, siehe auch oben), heisst es und ist auf weltbild.ch erhältlich. „Herzerwärmende Geschichten von früher und heute“, steht auf der Internetseite im Untertitel. Ist „herzerwärmend“ heute noch gefragt? Wären die aktuellen Geschichten nicht eher die, die von der tödlichen Vereinsamung inmitten unserer Kommunikationstechnologien handeln?
TH Ja, wie ich sagte: Wir haben noch bei jeder Gelegenheit gesungen, meine Grossmutter hat mir endlos Märchen und Geschichten erzählt. Die Mutter hat an den Adventsabenden vorgelesen, wir haben als junge Männer versucht wie unsere grossen Vorbilder Jazz zu spielen. Das alles ist und war herzerwärmend.
MH Für deutsche Ohren klingt Berndeutsch zuweilen ja ähnlich vertraut wie Chinesisch. Möchten sich deutsche Chanson-Fans eine Tinu Heiniger-Musik-CD anhören, welche würdest du ihnen rein vom klanglichen Gesamterlebnis her ganz spontan empfehlen?
TH Im Theater im Kornhaus war einmal, ohne dass ich es wusste, eine russische Gruppe, die sich für Kultur interessierte im Theater. Nach meinem Konzert haben mich v. a. die fülligen Russinnen an ihre Brüste gedrückt und alle haben mir überschwänglich für meine Lieder gedankt. Und das, obwohl sie kein Wort verstanden haben. Also: Es spielt keine Rolle welche Lieder man von mir hört, auch wenn nicht alle gleich gut sind.
Das ist das Schöne am alt werden: Es ist alles, was einmal war, da.
MH Christof Stählin ist von einer Interviewerin einmal ziemlich dreist gefragt worden: „Haben Sie“ – sie sprach ihn ganz unverblümt auf sein Alter an – „noch etwas vor, oder leben Sie eher in ihren Erinnerungen?“ Darauf schrieb Christof Stählin eines seiner für mich genialsten Lieder: „Ich habe vor.“ Was hast du noch vor, Tinu?
TH Das ist das Schöne am alt werden: Es ist alles, was einmal war, da. Es lagert in uns bis tief in die Knochen hinein. Es heraufzuholen und immer neu zu verstehen und gleichzeitig, was um uns geschieht, versuchen zu verstehen, das ist und bleibt spannend bis zum Schluss. Von einem Hirnforscher habe ich in einem Interview gelesen, unser Hirn habe bis zum Tod nur ein Ziel: zu lernen. Und gäll, was für ein wunderbarer Beruf, das Leben und Dasein zu erforschen und daraus Lieder zu schreiben und Musik zu machen!
MH Enden wir hier doch mit dem Punkt, mit dem „Heiniger trifft“ sonst jeweils beginnt. Mit deinem Lieblingsplatz. „Das isch my Platz“, (das ist mein Platz), singst du in einem deiner Lieder, „dert bin ig daheime“, (dort bin ich zu Hause). Wohin genau entführst du die Leserinnen und Leser unseres Interviews?
TH Ja, in diesem Lied ist das ein bestimmter, fast unzugänglicher Platz in einer Schlucht, wo ich in meiner Zeit am Thunersee immer hingegangen bin. Aber Genaueres verrate ich nicht. Dieser Platz und überhaupt das Wandern in der Natur, alleine oder zu zweit, das hat mich schon damals jeweils aus meinen aufgeregten und oft wirren Gedanken, Ängsten und Besorgnissen gerissen und zur Besinnung und Ruhe gebracht.
Biografisches
Tinu Heiniger wurde 1946 in Langnau als zweites von vier Geschwistern geboren. Seit den 1970er Jahren hat er das Schweizer Mundart-Chanson geprägt wie nur wenige andere. Im Jahr 2004 erhielt er für sein Schaffen den Grossen Musikpreis des Kantons Bern.
Heiniger tritt zwar oft auch alleine auf, aber immer wieder spielt er gerne mit den für ihn besten Schweizer Musikern zusammen. In früheren Jahren waren das die Gitarristen Schifer Schafer oder Philipp Schaufelberger und der Jazzbassist Thomas Dürst. Als Mitmusiker und Produzenten seiner Alben der Büne Huber, der Stephan Eicher und der geniale Holländer-Musiker Reyn Ouwehand.
Seit ein paar Jahren ist er mit seiner All Star Band, mit Pudi Lehmann, Gert Stäuble und Wolfgang Zwiauer unterwegs. Auch sie sind alles Musiker aus der Bundesliga. Mit ihnen zusammen hat er 2012 das Album „Bis a ds Ändi vo der Wält“ eingespielt. Und sie sind auch bei seinem 16. Album, das im Januar 2015 bei „Universal“ erscheint, wieder dabei. Der Titel der Produktion, aufgenommen im August dieses Jahres bei Reyn Ouwehand in seiner zum Studio umgebauten Kirche in Holland, passt gut zum alten Heiniger: „Scho so lang“.
Homepage
www.tinu-heiniger.ch